Einführung
"1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland"Die Geschichte des jüdischen Lebens in Hattersheimmit Eddersheim und Okriftel
Einführung Von der Stadt aufs Land
Einführung Von der Stadt aufs Land
Das Landjudentum
meisten Jüdinnen und Juden noch in den Städten. In der Frühen Neuzeit setzte - durch politische und ökonomische Entwicklungen sowie durch zunehmende Verfolgung bedingt - eine Abwanderung auf das Land ein.
Die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung lebte vom 15./ 16. Jahrhundert
an bis zur rechtlichen Umsetzung der "Judenemanzipation" im 19. Jahr-
hundert in Kleinstädten und Dörfern.
Über die Geschichte, das Alltagsleben dieser sogenannten Landjuden ist
meist wenig bekannt - das jüdische Leben in den Großstädten ist wesentlich umfangreicher dokumentiert.
Es handelte sich um eine heterogene Gruppe, deren Gestalt durch unter-
schiedliche territoriale, ökonomische, politische und soziale Einflussfaktoren geprägt war. Das "Judenregal" lag in den Händen der jeweiligen Landes-
herren. Das Leben der Jüdinnen und Juden wurde geregelt durch Schutz-
briefe beziehungsweise Judenordnungen. Sie selbst organisierten sich in
der Frühen Neuzeit, vereinzelt auch noch bis ins 19. Jahrhundert hinein,
in sogenannten Landesjudenschaften.
In vielen Ortschaften entstanden im Laufe der Zeit Glaubensgemeinden, welche ein von der christlichen Gemeinde unabhängiges Sozialwesen organisierten. Aufgrund von Zuzugsbeschränkungen blieben diese jedoch häufig klein.
Durch Verbote von zahlreichen Erwerbsmöglichkeiten ausgeschlossen und in eine Außenseiterrolle gedrängt, waren die Jüdinnen und Juden vor allem im Warenhandel - meist von Agrarprodukten wie Vieh - und im Metzgerhandwerk tätig. Ein weiterer Erwerbszweig war das Darlehensgeschäft sowie die Pfand-
leihe. Sie erfüllten somit eine wichtige Funktion im Wirtschafts- wie im All-
tagsleben der Landgemeinden und Kleinstädte.
Das Verhältnis zwischen der jüdischen Minderheit und der christlichen Mehrheitsbevölkerung war dabei nicht unbelastet, oft von Vorurteilen
und Stigmatisierungen geprägt.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts setzte ein Auflösungsprozess des Landjuden-
tums ein. Und obwohl es natürlich weiterhin antijudaistische beziehungsweise antisemitische Ressentiments und Konflikte gab, so waren die jüdischen Ein-
wohnerinnen und Einwohner der Landgemeinden zu diesem Zeitpunkt oft gut in die Gemeinschaften integriert. Die persönliche Identifikation mit dem Wohnort war meist groß.
Auch auf dem Gebiet der heutigen Stadt Hattersheim am Main siedelten
sich Landjuden an. Erste Belege für jüdisches Leben stammen aus dem
17. Jahrhundert.
Jüdisches Leben in den Hattersheimer Gemeinden
Jüdisches Leben in den Hattersheimer GemeindenErste Spuren
Viehhandelsprotokolle1788-1792
Ein geglückter Handel
Ein geglückter Handel
Auszug aus den Hattersheimer Viehhandelsprotokollen
"Actum Hattersheim [...] 12ten [Febr.] 1796
Es vertauschte jud David von hier eine Kuh samt dem
Kalb unterm 1ten Febr. gegen eine andere Kuh mit
Mathes Sweickhart jun: letztere girbt dem juden zu
2 Karolin 1 Sim korn [..., und] 1 Sim: [...,gärst], die Zahlung so
gleich, Verkaifern sind einander gut vor frisch und ge-
sund."
Die Hattersheimer Synagoge
Die Hattersheimer Synagoge
ist die Synagoge. In kleineren Gemeinden gab es anstelle eines prächtigen Gotteshauses meist ein kleineres Bethaus oder einen Betsaal, welcher zugleich die Funktion eines Lehrhauses erfüllte. Oft wurden diese Art von Räumlichkeiten auch "jiddische schul" genannt. In Hattersheim entbrannte Ende des 18. Jahrhunderts über das Abhalten von Gottesdiensten in der jüdischen Schule ein größerer Konflikt.
Im Judentum ist eine Anzahl von mindestens zehn im religiösen Sinne mündigen Juden (ehemals: Männern) nötig, um einen Gottesdienst
abzuhalten ("Minjan"). In kleinen Gemeinden konnte diese Vorschrift
zum Problem werden.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte man es den Hattersheimer Jüdinnen und Juden erlaubt, eine Schule, welche später auch als Synagoge bezeichnet wurde, zu unterhalten und dort Gottesdienste zu feiern. Seit den 1760er Jahren sollen auch Jüdinnen und Juden aus Hofheim an Hattersheimer Gottesdiensten teilgenommen haben, zeitweise auch die aus Okriftel.
Da die Hofheimer Jüdinnen und Juden bald (wieder) ihre eigenen Räum-
lichkeiten nutzen wollten und somit die Mindestanzahl der nötigen Gottes-
dienstteilnehmer nicht mehr gewährleistet war, entbrannte ein Streit darüber, an welchem Ort die Mitglieder der umliegenden jüdischen Gemeinden ihren Gottesdienst abzuhalten hatten. Im Juli 1788 richtete Abraham Moyses im Namen der Hattersheimer Gemeinde eine Beschwerde an die Mainzer Landesherrschaft.
Die Auseinandersetzung war langwierig, Kompromisslösungen scheiterten. Erst die Errichtung einer Kreissynagoge in Höchst im Jahre 1816 konnte
den Konflikt beenden.
Lageplan der Hattersheimer Synagoge1906
Gebäude in der Fischergasse 5Das ehemalige jüdische Schlachthaus in EddersheimBauplan aus dem Jahre 1893
Jüdische Unternehmer in Okriftel
Jüdische Unternehmer in Okriftel
Die Geschichte der Gemeinde Okriftel ist untrennbar mit
der des jüdischen Unternehmertums vor Ort verbunden.
Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Unter-
mainregion von der Industrialisierung erfasst wurde, gründeten
jüdische Einwohner Industriebetriebe, die den Ort nachhaltig
verändern sollten.
1873 eröffnete unter der Leitung von Moses Haas eine Fetthütte.
Diese produzierte Rohstoffe, die für die Herstellung von Seifen
benötigt wurden.
Sein Schwiegersohn - Marius Lang - errichtete in der Neugasse eine
Seifenfabrik. Während die Fetthütte aufgrund von Unwirtschaftlichkeit
1908 schließen musste, war die Seifenfabrik ein erfolgreiches Geschäft
und einige Zeit der größte Arbeitgeber am Ort.
Okrifteler Papier- und Cellulosefabrik
Okrifteler Papier- und Cellulosefabrik
im Jahre 1884. 1886 übernahm der damals 25-jährige Philipp Offenheimer,
Sohn eines jüdischen Kaufmanns aus dem Schwarzwald, die Fabrik vom Gründer Hermann Krebs und baute sie stetig aus. 1900 wurde eine Papierfabrik errichtet - das Unternehmen war innovativ und florierte.
Im Jahre 1910 waren hier bereits 226 Arbeiterinnen und Arbeiter
beschäftigt. In der ersten Hälfte der 1920er Jahre wurde eine kleine Sulfitspritfabrik errichtet.
Je erfolgreicher das Unternehmen wurde, desto mehr wuchs die Ver-
bundenheit Offenheimers zu Okriftel. Er erwarb die Bonnemühle,
welche er durch den berühmten Architekten Georg Metzendorf im
Jahre 1916 zu seinem Sommersitz und die eigentliche Mühle zur Wasserversorgung für die Papierfabrik umbauen ließ.
Philipp Offenheimer wurde zu einem Mäzen der Gemeinde Okriftel. So war
er etwa an der Einführung der elektrischen Straßenbeleuchtung im Jahre
1908 beteiligt. Er trat als Spender zur Errichtung des Okrifteler Rathauses auf. Und auch für seine Arbeiterinnen und Arbeiter sorgte er gut: Neben Weih-
nachtsgeld wurden auch Dienstalterprämien und Sterbegeld ausgezahlt.
Es gab eine Werksbücherei.
Nach dem Tod Philipp Offenheimers im Jahre 1930 übernahm dessen Sohn Ernst zusammen mit seinem Schwager Siegfried Bloch die Leitung der Fabrik.
Die jüdische Schule in Okriftel
Die jüdische Schule in Okriftel
Ein Betraum für die Okrifteler Juden
Juden aus Okriftel Ende des 18. Jahrhunderts wieder die Gottesdienste
in Hattersheim besuchen. Ob es in der Folgezeit abermals einen Betraum
oder Ähnliches in Okriftel gab, ist derzeit nicht bekannt.
In der Zeitung "Der Israelit" wird für den 8. Juli 1900 von einer Feier zum fünfzigjährigen Dienstjubiläum des Lehrers und Kantors E. Mannheimer berichtet. Im Rahmen dieser Feierlichkeiten wurde eine Thora eingeweiht.
Ob und wo in Okriftel diese Thora zum Einsatz kam, ist bisher ebenfalls
nicht erforscht.
Jedoch belegt ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 1906, dass Philipp Offenheimer der Gemeinde eine neue Thora-Rolle spendete. Es ist naheliegend, dass diese auch in Okriftel zur Abhaltung von Gottes-
diensten genutzt wurde.
In den kommenden Jahren stellte Philipp Offenheimer den Okrifteler
Jüdinnen und Juden auf dem Gelände der Fabrik einen Betraum in der sogenannten jüdischen Schule zur Verfügung.
Das Gebäude wurde um 1909/10 entlang der Kirchgrabenstraße als rechteckiger, zweigeschossiger Bau mit einer hölzernen Außentreppe
und Flachdach errichtet. Auf einem Lageplan aus dem Jahre 1911 tritt es
als "Bibliothek" erstmals in Erscheinung.
In den Jahren 1915 bis 1920 sollen hier Gottesdienste gefeiert worden
sein. Später wurde das Gebäude erneut als Bibliothek genutzt.
Judenverfolgung
Ausgrenzung und Verfolgung 1933-1945
Nachbarn werden zu "Volksfeinden"
Nachbarn werden zu "Volksfeinden"
kerung aus allen Gesell-
schafts- und Lebens-
bereichen. Insgesamt wurden in der Zeit des Nationalsozialismus circa 2.000 antijüdische Gesetze oder Verordnungen erlassen. Eine erste Terrorwelle erfolgte
noch im Frühjahr 1933.
Aprilboykott
Am 1. April 1933 begann eine vom "Zentral-Komitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze" orga-
nisierter, reichsweiter Boykott jüdischer Geschäfte, Unternehmen, Rechtsanwälte und Ärzte. Die Parole?
"Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!". Auch in den drei Hattersheimer Gemeinden wurden die jüdischen Betreiber von
Geschäften Opfer der "Boykottaktionen".
In der Okrifteler Papier- und Cellulosefabrik beispielsweise erschien der NSDAP-Kreisleiter persönlich, um die Fabrik zu schließen. SA-Mitglieder drangen auf das Gelände vor, um die Arbeitsprozesse zu stören. Vor dem Hintergrund, dass die Fabrik auch für das Ausland produzierte, wurde sie jedoch nicht vollends stillgelegt.
Nur wenige Straßen weiter, in der Okrifteler Langgasse, wurde die Familie Hahn, welche ein kleines, jedoch sehr erfolgreiches Kaufhaus betrieb,
Opfer der "Aktion". Der Parteigenosse und spätere NSDAP-Ortsgruppenleiter, Schullehrer Oskar Schneider, notierte die Namen von Kunden, die trotz Boykott im Laden einkauften und leitete diese an die Ortsgruppenleitung weiter.
Fortschreitende Diskriminierung und Entrechtung
Fortschreitende Diskriminierung und Entrechtung
Radikalisierung der "Judenpolitik"
der Jüdinnen und Juden in Deutschland. Die rassistische NS-Ideologie fand etwa durch das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" Eingang in die Legislative. Weitere Ausschlüsse aus Berufen, aus den Uni-
versitäten und Schulen, aus nichtjüdischen Kultureinrichtungen führten in
der Folgezeit zu einer weitgehenden privaten und öffentlichen Isolation. Vor allem politisch verfolgte und jüngere Jüdinnen und Juden entschlossen sich in dieser Situation zur Emigration. Die meisten blieben jedoch. Viele suchten nach Formen der Selbstbehauptung und es formierten sich Maßnahmen zur jüdischen Selbsthilfe.
Die "Nürnberger Gesetze" (1935) machten Jüdinnen und Juden faktisch
zu Bürgerinnen und Bürgern minderen Rechts. Sie waren die rechtliche Grundlage für die fortschreitende Diskriminierung und Verfolgung.
Sophie Maas, 1874 als Sophie Dreyfuß in Hattersheim geboren, hatte den Kaufmann Friedrich Ernst Maas geheirat, welcher nicht "jüdischer Herkunft" war. 1907 kam ihr gemeinsamer Sohn Alexander zur Welt. Sophie Maas betrieb in der Hauptstraße (heute: Parkplatz Erbsengasse) ein Lebensmittelgeschäft.
Die Ehe wurde bereits 1922 geschieden. Nach Erlass waren die jüdischen Partner einer solchen "Mischehe" nach Scheidung nur dann geschützt, wenn es noch unversorgte Kinder gab - Sohn Alexander war zu diesem Zeitpunkt bereits erwachsen. Daher fiel Sophie Maas auch nicht unter den "Sonder-
status", welchen die "Mischehe"-Partner mitunter einnahmen und welcher unter bestimmten Umständen die Betroffenen vor einzelnen Verfolgungs-
maßnahmen schützen konnte.
1939 wurde Sophie Maas die Besitzübertragung ihres Hauses auf den Sohn versagt. Ab April 1940 musste sie ihr Geld auf ein sogenanntes "Sicherungs-
konto" einzahlen und konnte darüber nicht mehr verfügen.
Im Mai 1943 erhielt sie eine Vorladung. Sie wurde im Polizeigefängnis in der Frankfurter Klapperfeldstraße untergebracht und von dort aus nach Auschwitz deportiert. Wenige Monate später erhielt die Gemeinde Hattersheim die Nachricht, dass Sophie Maas dort am 12. September 1943 gestorben war.
Das "Schicksalsjahr" 1938
Das "Schicksalsjahr" 1938
Zäsur der deutsch-jüdischen Geschichte
die jüdische Bevölkerung nicht den gewünschten Erfolg gezeigt hatte.
Anfang 1938 lebten im "Altreich" noch etwa 360.000 Jüdinnen und Juden, über 65 % von ihnen (in Folge der Flucht vom Lande) in den Großstädten.
Nur etwa 100.000 hatten bis zu diesem Zeitpunkt das Land verlassen. Nachdem es 1936 und auch noch 1937 zu einer gewissen Verzögerung der antisemitischen Verfolgung gekommen war, wurden im "Schicksalsjahr"
1938 im verstärkten Maße und in beschleunigter Form antijüdische Gesetze und Verordnungen erlassen sowie antisemitische "Aktionen" durchgeführt. Innerhalb von wenigen Monaten verschlechterte sich die Situation immens. Schließlich eskalierte die Gewalt.
Vorrangig wurde vor allem die endgültige Ausschaltung der Jüdinnen und Juden aus dem Wirtschaftsleben forciert. Ab dem 26. April 1938 mussten
so alle Vermögen über 5.000 Reichsmark bei den Behörden angemeldet
werden. Über diese konnte nun der Staat verfügen. Daneben traten
weitere Berufsverbote in Kraft.
Die "Arisierung" der Okrifteler Papier- und Cellulosefabrik
Die "Arisierung" der Okrifteler Papier- und Cellulosefabrik
Die Industrie- und Handelskammer versuchte immer wieder, den Verkauf der Fabrik zu erzwingen. Doch auch eine Senkung der Rohstoffzuteilung konnte den Erfolg des soliden Unternehmens nicht ernsthaft gefährden. 1938 gab es noch etwa 700 Beschäftigte.
Schließlich wurde der Betrieb doch "arisiert". Ein Berliner Unternehmer mit guten Kontakten zu NS-Funktionären, Friedrich Minoux, erwarb die Fabrik
im Juli 1938 - weit unter Wert. Das Unternehmen trug nun den Namen Cellulosefabrik Okriftel a. M. Friedrich Minoux.
Die Fabrik blieb nur kurze Zeit im Besitz von Friedrich Minoux. Nach
dessen Verhaftung wegen Untreue und Betruges übernahm der SS-
und Wehrwirtschaftsführer Fritz Kiehn aus Stuttgart im Juli 1943 das Unternehmen.
Während des Zweiten Weltkrieges sollen in der Produktion rund 150 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingesetzt worden sein.
Im Dezember 1944 wurde der Betrieb wegen Rohstoffmangel vorüber-
gehend eingestellt.
Der Novemberpogrom
deutschen Diplomaten vom Rath in der Botschaft geschossen
und ihn schwer verletzt. Aus Rache für die Juden. [...]
In Hessen große antisemitische Kundgebungen.
Die Synagogen werden niedergebrannt.
Wenn man jetzt den Volkszorn einmal loslassen könnte!"
Tagebucheintrag Joseph Goebbels, 8. November 1938.
Am 7. November 1938 verübte ein junger jüdischer Mann namens Herschel Grynszpan in der deutschen Botschaft in Paris ein Attentat auf den Diplomaten Ernst vom Rath, an welchem dieser am 9. November verstarb. Dieses Ereignis wurde von den Nationalsozialisten als eine Verschwörung
des "Weltjudentums" gegen das Reich emporstilisiert und
zum Vorwand für die Inszenierung der sogenannten "Reichskristallnacht".
Insgesamt wurden während des Pogroms im November 1938 über 1.400 Synagogen und Betstuben zerstört und zahllose jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet und geplündert. Mehr als 30.000 jüdische Männer wurden verhaftet und rund 26.000 von ihnen in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt.
Man schätzt die Zahl der Toten heute auf bis zu 1.500. Rund 1.000 Männer starben zudem in der KZ-Haft beziehungsweise als Folge der Inhaftierung.
Der Pogrom in den drei Hattersheimer Gemeinden
Der Pogrom in den drei Hattersheimer Gemeinden
Hattersheim
Zwischen 22 und 23 Uhr wurde das Wohn- und Geschäftshaus des Metzgers Ludwig Nassauer an der Ecke Hofheimer Straße/ Mainzer Landstraße überfallen. Das Kühlhaus wurde aufgebrochen und das Fleisch auf die Straße geschleudert. Wertsachen wie Silber und Schmuck-stücke, Pelze und Uhren wurden gestohlen.
Die Ausschreitungen dauerten offenbar bis etwa Mitternacht an. Ludwig Nassauer wurde verhaftet und am
11. November über Frankfurt in das KZ Buchenwald verschleppt.
Die Mitglieder der Familie Nassauer waren vermutlich die einzigen Opfer
des Pogroms in Hattersheim. Über die Geschehnisse vor dem Hause
des Ehepaars Theodor und Mina Grünebaum in der Staufenstraße gibt
es widersprüchliche Berichte. Offenbar hatte sich auch hier eine Gruppe von sechs bis acht Personen versammelt, um das Ehepaar zu überfallen. Mehrere Zeugen berichteten, dass NSDAP-Ortsgruppenleiter Friedrich Windeis diese mit vorgehaltener Waffe von ihrem Vorhaben abgehalten habe. Grund dafür könnten persönliche Beziehungen gewesen sein - Windeis und Grünebaum hatten einst als Kollegen bei den Farbwerken Höchst gearbeitet. Andere Zeugenaussagen berichten von einem Überfall auf das Ehepaar. Durch die vorliegenden Quellen lässt sich dieser Widerspruch nicht aufklären.
Eine Schadensmeldung über eine zerstörte Synagoge liegt für Hattersheim nicht vor. Das Gebäude in der Erbsengasse wurde zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht mehr als Gotteshaus genutzt.
...
"[Ich erinnere mich, d. V.] dass im Haus meiner Eltern praktisch kein Stück mehr ganz war, dass auch Türen und Fenster zerstört waren. […]
[Ich] kann über diese Ereignisse in der sogen. Kristallnacht nur sagen, dass - nachdem ich alles sah - mich das Grauen gepackt hat. Mehr bin ich beim besten Willen nicht in der Lage zu sagen[,] es sei denn, dass ich in der gleichen Nacht, wie so viele Andere, nur noch einen einzigen Wunsch hatte und diesen auch durchführte, nicht[s] mehr davon zu sehen.
Ich erinnere mich heute noch, dass ich einige Kleider hoffte aus den Trümmern für mich retten zu können - auch das eine oder andere Schmuckstück und bares Geld[,] von dem ich wusste, wo wir es aufbewahrt hatten. Selbst an diesem Vorhaben wurde ich durch die in meiner Wohnung wütenden Nazis gehindert […] und ich flüchtete nach Mainz, wo Angehörige meines Mannes wohnten.
Die Wohnung habe ich nicht mehr betreten und bin
von Mainz aus direkt nach Köln gefahren und von Köln
aus ausgewandert."
Alice Frohwein
Folgen des Pogroms
jüdischen Existenzmöglichkeiten in Deutschland ein.
Während ein Großteil der jüdischen Männer nach dem
Pogrom in Dachau, Sachsenhausen oder Buchenwald festgehalten wurde, erging über die Zurückgebliebenen
eine Flut von Anordnungen und Gesetzen.
So beispielsweise die "Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit“ und die "Verord-nung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben". Jüdinnen und Juden wurde der Besuch "deutscher" Schulen verboten, mit Beginn des Jahres 1939 waren sie verpflichtet, die zusätzlichen Vornamen "Israel"
oder "Sara" zu führen. Die Zwangskennzeichnung mit dem Judenstern wurde zum 1. September 1941 angeordnet. Zugleich wurde die "Zwangsarisierung" aller verbliebenen jüdischen Betriebe verfügt.
Die Ereignisse der "Kristallnacht" und der Folgezeit führten zu einer panikartigen Massenflucht aus Deutschland. Zwischen November 1938 bis September 1939 gelang noch rund 115.000 Jüdinnen und Juden die Flucht aus Deutschland. Ab der Mitte des Jahres 1939 wurde die Auswanderung massiv erschwert und im Oktober 1941 schließlich verboten. Zu diesem Zeit-punkt hatte der Völkermord bereits begonnen.
Im November 1938 lebten in den Gemeinden Hattersheim, Eddersheim und Okriftel noch etwa 28 Jüdinnen und Juden. Auch für sie wurden die Ereignisse um die "Kristallnacht" zur Zäsur.
Das Ende der jüdischen Gemeinden
Das Ende der jüdischen Gemeinden
So lautete eine Meldung des Eddersheimer Bürgermeisters am
13. November 1938 an den Landrat.
Und auch in Okriftel und Hattersheim blieben nur einzelne Jüdinnen
und Juden zurück. Einige flohen zu Verwandten, andere nach Frankfurt
- manche in der Hoffnung, doch noch eine Chance zur Auswanderung
ergreifen zu können.
Der Unternehmerfamilie Bloch/ Offenheimer aus Okriftel gelang
die Flucht. Nach dem Pogrom floh Siegfried Bloch mit seiner Frau
Marie Therese (geb. Offenheimer) und der Tochter Gertrude über
Amsterdam nach England und schließlich in die USA.
Auch Ernst Offenheimer, seine Mutter Lucie und seine Frau Elly
wanderten noch im gleichen Jahr in die USA aus. Vom Verkaufserlös
der Papier- und Cellulosefabrik blieb den Flüchtenden allerdings nichts.
Einen Betrag von 1 Mio. RM mussten sie als "Reichsfluchtsteuer" abtreten -
der Rest wurde auf ein Sperrkonto eingezahlt. Auch über ihre anderen
Konten konnten sie nicht mehr verfügen.
Aufarbeitung
Aufarbeitung
Aufarbeitung
NS-Zeit und somit auch die der Historie der jüdischen Gemeinden.
An diesem Prozess waren neben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadtverwaltung auch Historikerinnen und Historiker, Zeitzeuginnen
und Zeitzeugen, Opfer, Pädagoginnen und Pädagogen sowie weitere Einzelpersonen wie Institutionen beteiligt.
Im Jahre 2008 erschien Anna Schmidts Monographie Hattersheim, Eddersheim, Okriftel im Nationalsozialismus. Diktatur, Widerstand,
Verfolgung 1933-1945. Im Jahr darauf nahm die AG Opfergedenken
ihre Arbeit auf. 2010 wurde mit der Verlegung der Stolpersteine
begonnen - bis heute wurden 81 Steine für Opfer der NS-Diktatur
verlegt.
Insgesamt ist bisher das Schicksal von 74 Frauen, Männern und Kindern
aus den Ortsteilen der Stadt Hattersheim am Main bekannt, die nach Definition der Nationalsozialisten als Jüdinnen und Juden galten:
40 Personen stammten aus Okriftel, 18 aus Eddersheim und 16
aus Hattersheim.
Ihre Biographien sind in dem 2014 erschienenen Buch "…man müßte
einer späteren Generation Bericht geben" - Ein Lesebuch zur
Geschichte und Gegenwart von Hattersheim am Main veröffentlicht
und können auch über die Homepage der Stadt Hattersheim am Main
(https://www.hattersheim.de/stolpersteine) abgerufen werden.
Heute leben im Hattersheimer Stadtgebiet 26 Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens.